Der Einstieg in den Lizenzradsport ist kein gradueller Anstieg, sondern ein brutaler Systemwechsel, bei dem mentale Härte anfangs mehr zählt als reine Wattwerte.
- Die größte Hürde ist nicht die körperliche Fitness, sondern das Verständnis für die chaotische Renndynamik und die Fähigkeit, das erste „Lehrgeld“ zu akzeptieren.
- Ein strukturiertes, polarisiertes Training (80/20-Prinzip) ist der effizienteste Weg, die nötige Rennhärte aufzubauen, ohne die Trainingszeit ins Unermessliche zu steigern.
Empfehlung: Definieren Sie für Ihre erste Saison den Lernprozess als Ihr einziges Ziel. Konzentrieren Sie sich darauf, Rennen zu beenden und taktische Erfahrungen zu sammeln, anstatt auf Platzierungen zu schielen.
Sie sind der König Ihrer Sonntagsrunde. Am Ortsschildsprint lassen Sie die Kollegen stehen und auf langen Anstiegen finden nur wenige eine Antwort auf Ihr Tempo. Der Gedanke liegt nahe: Bin ich bereit für echte Rennen? Für viele ambitionierte Hobbyfahrer in Deutschland ist dies der logische nächste Schritt. Doch der Sprung von der zügigen Trainingsausfahrt in den lizenzierten Wettkampfzirkus ist tiefer und härter, als die meisten erwarten. Viele glauben, es gehe nur darum, noch mehr Kilometer zu sammeln und die FTP (Functional Threshold Power) um ein paar Watt zu steigern.
Die harte Wahrheit, die ich in 20 Jahren als Betreuer im Amateur-Rennsport immer wieder sehe, ist eine andere. Der Wechsel ist ein kompletter Systemwechsel. Es ist der Übergang von einer vorhersagbaren, kontrollierten Belastung zu einem chaotischen, unberechenbaren Kampf um Positionen, in dem Aerodynamik und taktisches Geschick oft rohe Kraft schlagen. Der größte Gegner ist nicht die Konkurrenz, sondern die Lücke zwischen der Erwartung und der brutalen Realität des Wettkampftempos.
Aber lassen Sie sich davon nicht entmutigen. Mit der richtigen Vorbereitung und einer realistischen Erwartungshaltung können Sie diesen Übergang meistern. Dieser Guide ist Ihr ehrlicher Fahrplan. Er bereitet Sie nicht nur körperlich, sondern vor allem mental auf das vor, was Sie erwartet. Wir werden die administrativen Hürden nehmen, die taktischen Fallstricke aufdecken und einen Weg aufzeigen, wie Sie sich die nötige Rennhärte aneignen, um nicht nur Ihr erstes Rennen zu starten, sondern es auch mit einem Lächeln – und wertvollen Erfahrungen – zu beenden.
In den folgenden Abschnitten zerlegen wir den Weg vom ambitionierten Hobbyfahrer zum Lizenz-Rennfahrer in verdauliche, realistische Schritte. So erhalten Sie einen klaren Überblick über die Herausforderungen und die Meilensteine Ihres ersten Wettkampfjahres.
Inhalt: Ihr Weg zum ersten Radrennen
- Warum 40% der Erstlingsfahrer ihr erstes Rennen abbrechen: Die mentale Barriere des Wettkampftempos?
- Wie Sie Lizenz beantragen, sich anmelden und die Rennregeln verstehen: Der administrative Fahrplan?
- Jedermann-Rennen vs. Lizenz-Rennen vs. RTF: Welches Format für Ihr aktuelles Leistungsniveau?
- Die 3 taktischen Anfängerfehler, die Sie vom Mittelfeld ins hintere Drittel bringen?
- Wann sind Sie wirklich bereit für Ihr erstes Rennen: FTP-Schwelle, Kilometerleistung oder mentale Reife?
- Warum 40% der Erstlingsfahrer ihr erstes Rennen abbrechen: Die mentale Barriere des Wettkampftempos?
- Wann sind Sie wirklich bereit für Ihr erstes Rennen: FTP-Schwelle, Kilometerleistung oder mentale Reife?
- Wie Sie durch strukturierte Jahresplanung Ihre FTP um 40 Watt steigern, ohne Ihre Trainingszeit zu erhöhen?
Warum 40% der Erstlingsfahrer ihr erstes Rennen abbrechen: Die mentale Barriere des Wettkampftempos?
Der Hauptgrund, warum so viele gut trainierte Hobbyfahrer ihr erstes Rennen desillusioniert aufgeben, ist ein Schock für das System: das Wettkampftempo. Es ist nicht die hohe Durchschnittsgeschwindigkeit an sich, sondern die brutale, unrythmische Natur der Belastung. Im Training fahren Sie meist ein gleichmäßiges, hohes Tempo. Im Rennen erleben Sie den sogenannten „Waschmaschinen-Effekt“, besonders in Kriteriumsrennen, dem häufigsten Format in den unteren Amateurklassen in Deutschland.
Dieser Effekt, auch Ziehharmonika-Effekt genannt, entsteht durch das ständige Bremsen vor und das maximale Beschleunigen aus den Kurven. Während die Fahrer an der Spitze relativ flüssig durch die Kurven rollen, muss das hintere Drittel des Feldes fast zum Stillstand abbremsen und dann einen Vollsprint hinlegen, um die entstandene Lücke wieder zu schließen – Runde für Runde. Dieser ständige Wechsel zwischen anaeroben Sprints und kurzen „Erholungsphasen“ verbrennt exponentiell mehr Energie und zermürbt mental. Sie haben nie die Chance, Ihren Rhythmus zu finden.

Diese Dynamik zu verstehen ist der erste Schritt. Die physische Belastung ist enorm, aber die mentale Herausforderung ist größer. Sie fühlen sich stark, aber das Feld diktiert einen Rhythmus, der jede Faser Ihres Körpers und Geistes zum Aufgeben zwingen will. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht, das viele nicht erwarten.
Erfahrungsbericht: Die Realität eines deutschen Kriteriums
Ein C-Klasse Fahrer beschreibt seine ersten Erfahrungen in deutschen Kriteriumsrennen treffend. Er berichtet, dass in Rennen mit einem Durchschnitt von über 40 km/h „Schulter an Schulter“ durch die Kurven geflogen wird. Der ständige Ziehharmonika-Effekt im hinteren Feld kostet ihn nachweislich mehr Kraft als das kontrollierte Fahren im vorderen Drittel. Diese Erkenntnis, dass die Position im Feld über Sieg oder Aufgabe entscheidet, ist eine der ersten bitteren Lektionen im Rennsport.
Das Akzeptieren dieser chaotischen Dynamik als Teil des Spiels, anstatt dagegen anzukämpfen, ist der Schlüssel, um die ersten Rennen nicht nur zu überstehen, sondern daraus zu lernen.
Wie Sie Lizenz beantragen, sich anmelden und die Rennregeln verstehen: Der administrative Fahrplan?
Bevor Sie sich ins Renngeschehen stürzen können, steht ein unumgänglicher, aber machbarer administrativer Prozess an. In Deutschland führt der Weg zur Teilnahme an offiziellen Lizenzrennen ausschließlich über den Bund Deutscher Radfahrer (BDR). Eine Lizenz zu beantragen ist ein klares Bekenntnis zu Ihrem neuen sportlichen Ziel und der erste offizielle Schritt auf Ihrem Weg.
Der Prozess ist standardisiert und läuft größtenteils digital ab. Der wichtigste Punkt ist die Mitgliedschaft in einem Radsportverein, der dem BDR angeschlossen ist. Dieser Verein ist Ihre sportliche Heimat, Ihr Ansprechpartner und oft auch Ihre erste Trainingsgemeinschaft. Die Kosten für eine Lizenz und die Vereinsmitgliedschaft sind überschaubar und variieren leicht je nach Landesverband.
Um Ihnen einen klaren Überblick zu geben, fasst die folgende Tabelle die typischen jährlichen Kosten zusammen. Diese Investition sichert Ihnen nicht nur die Startberechtigung, sondern auch einen Versicherungsschutz während der Rennen.
| Bundesland/Verband | Lizenzgebühr | Vereinsgebühr (Durchschnitt) | Gesamtkosten/Jahr |
|---|---|---|---|
| Baden (Badischer-Radsport-Verband) | 24€ | 60-100€ | 84-124€ |
| Weitere Bundesländer | 20-30€ | 50-120€ | 70-150€ |
Der konkrete Antragsprozess selbst ist unkompliziert. Halten Sie sich an die folgenden Schritte, um Ihre Lizenz rechtzeitig vor Saisonbeginn in den Händen zu halten:
- Schritt 1: Werden Sie Mitglied in einem Radsportverein, der dem BDR angeschlossen ist. Suchen Sie nach einem Club in Ihrer Nähe mit einer aktiven Renngruppe.
- Schritt 2: Holen Sie bei Bedarf ein ärztliches Attest ein. Für Antragsteller über 60 Jahre ist ein „Sportgesundheitspass“ Pflicht, für jüngere Fahrer wird er dringend empfohlen.
- Schritt 3: Stellen Sie den Online-Antrag über das zentrale Portal rad-net.de. Hier werden alle Ihre Daten erfasst.
- Schritt 4: Lassen Sie den Antrag von Ihrem neuen Verein digital freigeben. Ihr Vereinsvorstand prüft Ihre Mitgliedschaft und bestätigt den Antrag.
- Schritt 5: Planen Sie eine Bearbeitungszeit von etwa 3-4 Wochen ein, nachdem der Verein den Antrag freigegeben hat. Beantragen Sie die Lizenz also am besten schon im Winter.
Sobald Sie Ihre Lizenz haben, können Sie sich über rad-net.de für Rennen anmelden. Machen Sie sich parallel mit dem Regelwerk des BDR vertraut, insbesondere mit den Regeln für Ihre Rennklasse (Einsteiger starten in der „Amateur“-Klasse, ehemals C-Klasse).
Jedermann-Rennen vs. Lizenz-Rennen vs. RTF: Welches Format für Ihr aktuelles Leistungsniveau?
In Deutschland bietet sich ambitionierten Radsportlern eine breite Palette an Veranstaltungsformaten. Die Wahl des richtigen Formats für den Einstieg ist entscheidend, um Frustration zu vermeiden und positive Erfahrungen zu sammeln. Ihre aktuelle Leistungsfähigkeit und Ihre Ziele bestimmen, wo Sie am besten aufgehoben sind. Betrachten wir die drei Hauptkategorien: Radtourenfahrten (RTF), Jedermann-Rennen und Lizenz-Rennen.
Radtourenfahrten (RTF) sind der niederschwelligste Einstieg. Es gibt keine Zeitnahme und keinen Wettkampfcharakter. Sie sind perfekt, um in einer großen Gruppe zu fahren, sich an die Dynamik zu gewöhnen und lange Distanzen zu bewältigen. Es ist ein organisierter Rahmen für Ihr Grundlagentraining. Jedermann-Rennen, wie die Cyclassics in Hamburg oder Rund um Köln, sind der nächste Schritt. Hier gibt es eine Zeitnahme und Wettkampfatmosphäre, aber das Leistungsniveau ist extrem heterogen – vom Gelegenheitsfahrer bis zum Ex-Profi ist alles dabei. Sie eignen sich hervorragend, um erste Rennerfahrungen auf abgesperrten Strecken zu sammeln, ohne den Druck eines Lizenzrennens.
Lizenz-Rennen sind die reinste Form des Wettkampfsports. Hier starten Sie in Leistungsklassen (Sie beginnen in der Amateur-Klasse). Die Rennen sind meist kürzer (oft 60-80 km), aber ungleich intensiver und taktischer als Jedermann-Rennen. Um hier nicht nur mitzurollen, sondern aktiv teilnehmen zu können, ist ein hohes Maß an spezifischer Fitness erforderlich. Eine oft genannte, realistische Benchmark ist eine Schwellenleistung (FTP) von mindestens 4,0 Watt pro Kilogramm Körpergewicht über 20 Minuten. Dieser Wert ist der Eintrittspreis, um die ständigen Tempoverschärfungen parieren zu können.
Die C-Klasse bietet den Einstieg in leistungsorientierten Breitensport. Lizenzrennen erfordern in der Regel weniger Ausdauer als Radmarathons.
– TOUR Magazin Redaktion, TOUR Magazin Rennlizenz Guide 2023
Ein guter Weg kann sein, mit RTFs zu beginnen, um Gruppenerfahrung zu sammeln, dann ein oder zwei Jedermann-Rennen zu fahren, um das Tempo zu spüren, und erst dann – mit der nötigen Fitness und mentalen Vorbereitung – den Schritt in die Lizenz-Klasse zu wagen.
Die 3 taktischen Anfängerfehler, die Sie vom Mittelfeld ins hintere Drittel bringen?
In Ihren ersten Rennen werden Sie schnell feststellen, dass Kraft und Ausdauer nur die halbe Miete sind. Taktisches Unvermögen kann selbst den stärksten Fahrer ans Ende des Feldes und aus dem Rennen katapultieren. Es gibt drei klassische Anfängerfehler, die immer wieder zu beobachten sind und die Sie unbedingt vermeiden sollten, um Ihre Energie effizient einzusetzen und im Rennen zu überleben.
Der erste und gravierendste Fehler ist das Fahren im hinteren Drittel des Feldes. Es fühlt sich dort vermeintlich sicherer und weniger hektisch an. Das ist ein Trugschluss. Wie bereits erwähnt, wirkt hier der Ziehharmonika-Effekt am stärksten. Sie vergeuden wertvolle Kraft bei jedem Antritt aus der Kurve. Investieren Sie stattdessen zu Beginn des Rennens die Energie, um sich im vorderen Drittel zu positionieren. Dort ist das Tempo gleichmäßiger und Sie sparen auf lange Sicht Körner.

Der zweite Fehler ist die Wahl des falschen Hinterrads. Als Neuling neigt man dazu, sich an den erstbesten Fahrer zu hängen. Doch nicht jeder Fahrer ist ein guter „Anker“. Beobachten Sie das Feld: Wer fährt ruhig und vorausschauend? Wer gehört zu einem lokalen, erfahrenen Team? Sich an einen erfahrenen Fahrer zu heften, der das Rennen „lesen“ kann, ist wie eine kostenlose Taxifahrt durchs Feld. Ein nervöser, unerfahrener Fahrer hingegen reißt Lücken und bremst unnötig, was Sie zusätzlich Kraft kostet.
Der dritte, oft unterschätzte Fehler ist eine unzureichende Verpflegung, selbst bei kurzen Rennen. Ein Kriterium über 60 Minuten fühlt sich kurz an, aber die Intensität leert Ihre Glykogenspeicher rapide. Viele Anfänger denken, für eine Stunde bräuchte man keine Gels. Falsch! Ein Gel, etwa 20-25 Minuten vor dem erwarteten Finale eingenommen, kann den entscheidenden Unterschied ausmachen, ob Sie die letzten, entscheidenden Runden überstehen oder kraftlos abreißen lassen müssen.
Denken Sie daran: Ihr Ziel in den ersten Rennen ist nicht zu gewinnen, sondern zu lernen. Jedes Rennen, in dem Sie einen dieser Fehler vermeiden, ist ein riesiger Erfolg auf Ihrer Lernkurve.
Wann sind Sie wirklich bereit für Ihr erstes Rennen: FTP-Schwelle, Kilometerleistung oder mentale Reife?
Die Frage „Bin ich bereit?“ beschäftigt jeden angehenden Rennfahrer. Viele suchen nach harten, messbaren Zahlen, um sich Sicherheit zu geben. Werte wie die funktionelle Schwellenleistung (FTP) oder die Jahreskilometer sind zwar nützliche Indikatoren, aber sie erzählen nur einen Teil der Geschichte. Wahre Rennreife ist eine Kombination aus physischer Grundlage und, was noch wichtiger ist, mentaler Einstellung.
Beginnen wir mit den Zahlen als Orientierung. Als grobe Richtlinie gilt, dass C-Klasse Fahrer eine solide Basis von 8.000 bis 15.000 Jahreskilometern mitbringen sollten. Dies stellt sicher, dass Ihr Körper an lange Stunden im Sattel gewöhnt ist. Die FTP ist ein besserer Indikator für die rennspezifische Leistungsfähigkeit. Wie bereits erwähnt, sind Werte um die 4,0 W/kg ein gutes Ziel, um im Feld mitschwimmen zu können. Aber Achtung: Diese Zahlen sind keine Garantie. Ich habe Fahrer mit 4,5 W/kg gesehen, die nach drei Runden mental gebrochen waren, und Fahrer mit 3,8 W/kg, die durch kluge Taktik im Finale noch dabei waren.
Viel entscheidender ist Ihre mentale Reife. Können Sie akzeptieren, dass Ihre ersten Rennen wahrscheinlich nicht nach Plan verlaufen werden? Dass Sie möglicherweise abgehängt werden? Dass es darum geht, Erfahrungen zu sammeln und „Lehrgeld“ zu zahlen? Diese Akzeptanz ist der größte Prädiktor für langfristigen Erfolg und Spaß am Rennsport. Ohne sie wird jeder Rückschlag zu einer existenziellen Krise, die Ihnen die Freude am Sport nimmt.
Ihr persönlicher Reife-Check für den Wettkampf
- Erwartungsmanagement: Bin ich bereit, abgehängt zu werden und das Rennen als reine Lernerfahrung zu verbuchen, anstatt auf ein Ergebnis zu hoffen?
- Lernbereitschaft: Verstehe und akzeptiere ich, dass meine ersten 3-5 Rennen reines „Lehrgeld“ sind, bei denen es nur ums Beobachten und Überleben geht?
- Sicherheitsbewusstsein: Habe ich die wichtigsten Rennregeln so verinnerlicht, dass ich für mich und andere kein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko darstelle?
- Gruppendynamik: Kann ich 90 Minuten lang in einer schnellen, ambitionierten Trainingsgruppe problemlos mithalten, ohne ständig am persönlichen Limit zu agieren?
- Plan B: Habe ich einen mentalen Plan dafür, was ich tue, wenn ich den Anschluss verliere? (z.B. in einer kleineren Gruppe weiterfahren, das Rennen kontrolliert zu Ende bringen)
Wenn Sie bei den meisten dieser Punkte mit „Ja“ antworten können, sind Sie wahrscheinlich mental bereit. Die physische Form ist trainierbar, aber die richtige Einstellung ist die Grundlage, auf der alles andere aufbaut.
Warum 40% der Erstlingsfahrer ihr erstes Rennen abbrechen: Die mentale Barriere des Wettkampftempos?
Wir haben die technische Ursache des Problems identifiziert: den brutalen „Waschmaschinen-Effekt“. Doch das Wissen allein schützt Sie nicht davor, ihm zum Opfer zu fallen. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die mentalen Werkzeuge zu entwickeln, um diesen Schock zu verarbeiten und konstruktiv zu nutzen. Das bloße Ziel, „nicht abgehängt zu werden“, ist eine Falle. Es ist ein negatives Ziel, das Angst erzeugt und Sie lähmt.
Der Schlüssel zur Überwindung dieser mentalen Barriere ist ein radikaler Wechsel der Perspektive: der Prozess-Fokus. Definieren Sie für Ihre ersten Rennen völlig neue, kontrollierbare Erfolgsmetriken, die nichts mit der Platzierung zu tun haben. Ihr Ziel ist nicht das Ergebnis, sondern das Erlernen einer spezifischen Fähigkeit pro Rennen. Dieser Ansatz nimmt den externen Druck und gibt Ihnen die Kontrolle zurück.
Mögliche Prozess-Ziele für Ihre ersten Rennen könnten sein:
- Rennen 1: „Ich bleibe die ersten 15 Minuten unter allen Umständen im vorderen Drittel des Feldes, egal wie viel Kraft es kostet.“
- Rennen 2: „Ich suche mir das Hinterrad eines Fahrers vom lokalen Top-Team und versuche, so lange wie möglich daran zu bleiben.“
- Rennen 3: „Ich konzentriere mich ausschließlich auf das flüssige Durchfahren der Kurven und versuche, nie bremsen zu müssen.“
Dieser Ansatz verwandelt eine potenziell traumatische Erfahrung in eine Serie von wertvollen Trainingseinheiten unter realen Bedingungen. Jeder Zieldurchlauf, egal an welcher Position, wird zu einem Erfolg, wenn Sie Ihr Prozess-Ziel erreicht haben. Sie beginnen, das Rennen als ein Labor zu sehen, nicht als ein Examen. Das ist der Kern dessen, was wir als Rennhärte bezeichnen: die Fähigkeit, unter Druck zu lernen und sich anzupassen.
Akzeptieren Sie das „Lehrgeld“. Jedes abgebrochene Rennen, jede geplatzte Gruppe ist eine bezahlte Lektion. Analysieren Sie danach, warum es passiert ist, definieren Sie ein neues Prozess-Ziel für das nächste Mal und versuchen Sie es erneut. Das ist der Weg des echten Rennfahrers.
Das Wichtigste in Kürze
- Der Schritt zum Lizenzrennen ist ein Systemwechsel: Taktik und mentale Härte sind anfangs wichtiger als reine Watt-Werte.
- Definieren Sie für Ihre erste Saison Lernen als einziges Ziel. Akzeptieren Sie Rückschläge als notwendiges „Lehrgeld“.
- Ein polarisiertes Trainingsmodell (80/20) ist der wissenschaftlich fundierte und zeiteffizienteste Weg, um die nötige Rennhärte aufzubauen.
Wann sind Sie wirklich bereit für Ihr erstes Rennen: FTP-Schwelle, Kilometerleistung oder mentale Reife?
Nachdem wir die einzelnen Komponenten der Rennreife beleuchtet haben, fügen wir sie zu einem Gesamtbild zusammen. Stellen Sie sich die drei Faktoren – FTP, Kilometerleistung und mentale Reife – als ein dreistufiges Qualifikationssystem vor. Jeder Faktor hat seine eigene, unverzichtbare Funktion auf Ihrem Weg zur Startlinie.
Die Kilometerleistung ist Ihre Basis, das Fundament Ihres Hauses. Ohne eine solide Grundlage von mehreren tausend Kilometern pro Jahr wird Ihr Körper die wiederholten, harten Belastungen der Rennsaison nicht verkraften. Sie riskieren Übertraining, Verletzungen und Motivationsverlust. Die Jahreskilometer sind der Beweis, dass Ihr Bewegungsapparat und Ihr Stoffwechsel für die Belastung bereit sind. Sie sind Ihre „Lizenz zum Trainieren“.
Die FTP-Schwelle ist Ihr Ticket für den Eintritt. Sie ist die harte Währung, die bestimmt, ob Sie physisch überhaupt in der Lage sind, das Grundtempo des Feldes mitzugehen. Liegt Ihr Wert deutlich unter der 4,0 W/kg-Marke, werden Sie selbst bei perfekter Positionierung so tief im roten Bereich fahren, dass an taktisches Denken nicht zu denken ist. Eine adäquate FTP gibt Ihnen die physiologische „Luft zum Atmen“, die Sie benötigen, um den Kopf für taktische Entscheidungen frei zu haben.
Doch die mentale Reife ist der entscheidende Faktor, der darüber bestimmt, ob Sie nach den ersten, harten Rennen weitermachen oder Ihr Rad frustriert in die Ecke stellen. Sie ist der Mörtel, der das Fundament (Kilometer) und die Ziegelsteine (FTP) zusammenhält. Sie ist die Akzeptanz, dass Sie am Anfang der Nahrungskette stehen. Es ist die Neugier, die Sie antreibt, aus Fehlern zu lernen, anstatt an ihnen zu zerbrechen. Es ist die Fähigkeit, den Prozess zu lieben, nicht nur das potenzielle Ergebnis.
Sie können mit einer etwas niedrigeren FTP, aber einer exzellenten mentalen Einstellung erfolgreich lernen und wachsen. Andersherum wird selbst der „Watt-Monster“ ohne die richtige Einstellung scheitern. Ihre wahre Rennreife zeigt sich nicht auf dem Papier, sondern in Ihrer Antwort auf die erste, brutale Lektion, die Ihnen das Feld erteilt.
Wie Sie durch strukturierte Jahresplanung Ihre FTP um 40 Watt steigern, ohne Ihre Trainingszeit zu erhöhen?
Der Wunsch nach einer höheren FTP ist allgegenwärtig. Doch der häufigste Fehler ist, einfach mehr und härter zu trainieren. Das führt oft zu Stagnation und Burnout. Der intelligentere und nachhaltigere Ansatz ist ein strukturierter, polarisierter Trainingsplan. Das sogenannte 80/20-Prinzip ist der Goldstandard im Ausdauersport und wissenschaftlich belegt.
Die Idee ist verblüffend einfach: 80% Ihrer gesamten Trainingszeit verbringen Sie in einem sehr lockeren Grundlagenbereich (Zone 1-2), während nur 20% für hochintensive Intervalle (Zone 4-5) reserviert sind. Der oft vernachlässigte, aber zermürbende „mittlere“ Bereich (oft als „Sweetspot“ bezeichnet) wird bewusst vermieden. Dieser Ansatz ermöglicht es Ihrem Körper, sich von den harten Einheiten vollständig zu erholen und so stärkere Trainingsreize zu setzen. Studien zum polarisierten Training zeigten eine 11,7% durchschnittliche Verbesserung der aeroben Leistungsfähigkeit im Vergleich zu traditionelleren Methoden.
80% des Trainings finden im sehr gemütlichen Tempo statt, nur 10 bis 20% sollten intensiver gefahren werden. Dieses Prinzip des polarisierten Trainings gilt für ALLE Leistungsklassen vom puren Anfänger bis zum Hochleistungssportler.
– Rennrad-Liebe.de Trainingsexperten, Trainingsplan für Einsteiger 2024
Eine Steigerung von 40 Watt in einem Jahr ist ein ambitioniertes, aber für einen strukturiert trainierenden Amateur durchaus realistisches Ziel. Der Schlüssel liegt in der Periodisierung Ihres Jahres, abgestimmt auf den deutschen Rennkalender.
Fallstudie: Periodisierung nach deutschem Rennkalender
Ein bewährter Jahreszyklus für Amateur-Rennfahrer in Deutschland sieht wie folgt aus: Oktober-Februar: Fokus auf langes, lockeres Grundlagentraining (die 80%). Der BDR-Winterpokal kann hier als spielerische Motivation dienen. März-Mai: Aufbauphase. Hier integrieren Sie gezielt Schwellenintervalle (z.B. 2×20 Minuten an der FTP) und nutzen erste RTFs oder Jedermann-Rennen als intensive Trainingseinheiten. Juni-August: Wettkampfphase. Das Training wird rennspezifisch mit sehr kurzen, hochintensiven Intervallen (z.B. 30/30s oder 40/20s), um die Laktattoleranz und Sprintkraft zu verbessern. Zur Steuerung und Überprüfung des Fortschritts sollte alle 6-8 Wochen ein FTP-Test durchgeführt werden.
Jetzt liegt es an Ihnen. Verabschieden Sie sich vom Gedanken, dass nur mehr Härte zu mehr Leistung führt. Beginnen Sie noch heute damit, Ihr Training zu strukturieren, um Ihren Traum vom Rennsport nicht nur zu träumen, sondern ihn mit einem klugen Plan und realistischen Erwartungen zu verwirklichen.